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...Fortsetzung:  Marius Winzeler, Kraftströme

Elementare Gewalten sind schon seit jeher ein Thema für Christa-Luise Riedel, sie bestimmten ihre künstlerischen Anfänge mit Keramik und ziehen sich durch das in Umfang und Spektrum gleichermaßen weitgespannte Werk als ein Strang roter Fäden. Prometheisches Feuer, Erdverbundenheit, der Mut existentielle Fragen zu stellen und dennoch eine grundsätzlich positive Weltsicht zu bewahren kennzeichnen viele Phasen und Facetten dieses Oeuvre, das bei allen scheinbaren Sprüngen und Abgründen im Rückblick eine Entwicklung von beeindruckender Konsequenz offenbart. Ein Zitat von Pablo Picasso 1923 wird von Christa-Luise Riedel gerne als Motto beansprucht: „Wenn in Künstler seine Ausdrucksform ändert, bedeutet dies, dass er seine Art zu denken geändert hat.“ Im Denken mag auch Christa-Luise Riedel vielfache Änderungen vollzogen haben, die sich auf ihre Ausdrucksformen auswirkten, aber letztlich blieb sie sich als Künstlerin treu, ihrem humanitären Anspruch, ihrem gesellschaftlichen Engagement und eben, am Wichtigsten: ihrer eigenen Offenheit und Unvoreingenommenheit.

Ob “explodierende Kraft“ oder „gebündelte Kraft“ – Kräfte und Bewegungen sind mit künstlerischen Mitteln erfaßt, die von großer Energie zeugen und auch ein Wissen, eine geistige Dimension offenbaren. Ein Wissen nicht nur um die Kunst der letzten 100 Jahre, um die Klassische Moderne, um Zeitgenössisches in aller Welt, sondern auch ein Nachdenken über die gesellschaftliche Dimension von Kunst heute. Um ihrer selbst willen ist diese Kunst nicht gemacht, sie steht in der Zeit und ist Ausdruck der aktiven Beschäftigung der Künstlerin mit aktuellen, sie und uns alle bedrängenden Themen –Gewalt, Krieg, Tod und Vernichtung. Diese Kunst konfrontiert, regt an, regt auf, einmal scheint sie vordergründig, dann wieder abgrundtief. Spielerisch und leicht kommt die „Gedankenentwicklung“ (2001) als frei schwebende Paravent-Installationen daher, doch vermag das beidseitig bemalte Gewebe auch Einhalt zu gebieten und hat im farblichen Gegensatz der ambivalenten Strukturen einiges Gewicht.

Oberflächen und Materialien sind wichtige Bedeutungsträger – sei es handgeschöpftes Afrikapapier aus Elefantendung, hauchdünnes Japanpapier, Algenpapier, Baumrinde oder Kunststoffgeflecht. Immer sind es hautartige Strukturen, die Zeichen, Farben und Formen tragen. Auf drastische Weise führt die Künstlerin in den Assemblagen mit in Stahlrahmen gespannten Lederflächen und eingebrannten Worten die mehrdeutige Verletzlichkeit der Haut vor Augen – „Wer möchte in dieser Haut stecken?“, „Mit Haut und Haaren, „die eigene Haut retten“. Die Haut ist unser sinnlicher Seismograph und deswegen besonders wichtig für Christa-Luise Riedel, die in ihrem Werk wie ein Seismograph Veränderungen, Strömungen, Tendenzen registriert und verarbeitet (Andrea Goesch).

Worte, Titel und Schriftzeichen spielen eine herausragende Rolle im Werk der Künstlerin. Sie gibt vielen Bildern, Plastiken und Installationen Namen und steckt damit einen Deutungsrahmen ab, der anregt zu Fragen und Hinterfragungen. Die Interpretation müssen die Betrachterin und der Betrachter aber selbst leisten. Denn gerade in der großen Fülle und der kraftvollen Bewegung erschließt sich diese Kunst bei flüchtiger Betrachtung kaum – erst bei längerem Verweilen können die Bildüberlagerungen, ausschnitthaften Rapporte, verworrenen Gespinste gelesen werden. Es sind Antworten auf Ruhelosigkeit, Reizüberflutung, Technisierung, Entmenschlichung. Dabei klagt die Künstlerin nicht an, aber sie bezieht eine klare Position – auch dann, wenn sie bewußt keinen Titel vergibt und damit die Betrachter zusätzlich herausfordert: Ihre Installationen mit Schnüren und Kugeln, mit Draht, mit Farbengeäder und Licht sprechen von Vernetzung und Einbindung, von Verstrickung und Verknotung. Es geht um menschliche Verstrickung, um Schicksalhaftes, aber auch um den Kosmos. Jeder Mensch ist darin eingebunden, eingebunden in ein übergreifendes System, das er nicht erfassen kann: Selbst als schöpferisches Wesen ist er nie losgelöst davon, obwohl er dies oft meint. So sind auch Christa-Luise Riedels Werke, die den vier Elementen, den Jahreszeiten oder Tageszeiten gewidmet sind immer Ausdruck der Abhängigkeit des Menschen von der ihn umgebenden Schöpfung.

Freiheit und Gebundenheit sind ein Gegensatzpaar, aus dem heraus Christa-Luise Riedel schöpft, Kräfte freisetzt, Emotionen in Formen fasst. Sei es in Gemälden wie „Disput“ (1999), der Doppelplastik „Nephthys und Isis“ (2000), Zeichnungen wie den „Menschlichen Komödien“ (2000) oder in den Installationen „Sturm der Klänge“ (2003). Gerade letztere verdeutlichen den zeitkritischen und sozialen Anspruch der Künstlerin eindrücklich: Sie sind tonlos, die expressiv bemalte Baumrinde ist zwischen Glasscheiben gepresst, gefangen, gezwängt, aber durch die Hinterleuchtung dringt neue Kraft durch das Abgeschlossene – eine freie Kraft bahnt sich immer einen Weg, auch durch einen undurchdringlich scheinenden Sturm der Klänge.

Nach dem die Künstlerin sich einige Zeit von ihren kompakten frühen Werken entfernt hat und sich wucherndem Gespinst, Chiffren und Schichten zuwandte – zeichenhaften „Gravitationen“, „Kraftströmen“, „Feuerwerken“ – widmete sie sich jüngst wieder verstärkt einfachen geometrischen Formen und einer stark reduzierten Formensprache. Schwarz-weiße Zeichenhaftigkeit und ein Hang zu besonders kostbar anmutenden Zeichnungen im kleinen Format – poetische Preziosen voller Farben und Formen, mit Gold und Silber, Mondsicheln und Buchstabenwolken – ergänzen die plastischen Werke. Titel fehlen häufig oder sind ganz lakonisch: „Kopf“ (2003). Eine Klärung der Wirrnisse, eine Hinwendung zu geometrischer Unerbittlichkeit und Kompromisslosigkeit, eine Distanz zur Unruhe und zum Chaos und vielleicht auch eine gewisse Abgeklärtheit scheinen auf. Vielleicht darf dies als Ausdruck einer verstärkten Hinwendung der Künstlerin auch zu ihren eigenen Wurzeln erkennen?

2002 sagte sie, „Görlitz ist noch immer ein Ort, zu dem ich mich hingezogen fühle“ und „das Licht ist hier irgendwie heller.“ In zwei Ausstellungen wurde ihr Werk inzwischen im Dom Kultury in Zgorzelec gezeigt, einige Werke waren 2002 im Kaisertrutz ausgestellt, nun folgt zum 60. Geburtstag der Künstlerin eine Präsentation in der Frauenkirche.

Die Edelstahlplastik „Nephthys und Isis“ von 2000 erinnert  an die beiden ägyptischen Gottheiten, Halbschwestern, die in einem ständig spannungsvollen, aber fruchtbaren Verhältnis standen und hier als Schutzgöttinen der Doppelstadt Görlitz-Zgorzelec fungieren. 2003 taucht mit dem Wort „Życiorys“ plötzlich ein polnischer Werktitel bei Christa-Luise Riedel auf – zu deutsch „Lebenslauf“. Schwarz auf weiß, weiß auf schwarz. Die Trennung der Stadt, auch die Veränderung seit der Kindheit der Künstlerin klingt da an: Ganz leise hat hier ein bisher für das Werk nicht weiter wesentliches biographisches Element Eingang gefunden - Kindheitsmuster mit Eigendynamik.

In den drei kleinen Gemälden mit dem Titel „Eigendynamik“, archaisch wirkenden schwarz-weißen Acryl-Zeichnungen von 2002, zeigt sich in bestechender grafischer Art ein erzählendes Aufdröseln, eine entsponnene Geschichte. Ohne konkreten Bezug zu Taten und Figuren tragen diese Werke eine Mythologie in sich. Geistige Muster, eine eigene Spiritualität machen hier wie in manch anderen Arbeiten der Künstlerin die besondere Stärke aus. Die Abstraktion führte hier zu einer Verinnerlichung.  

Mit intensiver sinnlicher Wahrnehmung ihrer Umgebung, im Dialog mit den Mitmenschen, mit der Kenntnis von Wassiliy KandinskysTheorien und Jackson Pollocks Praxis, einem eigenen Erfahrungsschatz, der Action painting ebenso umfaßt wie keramisches Modellieren beschreitet Christa-Luise Riedel einen Weg von großer Eigenständigkeit. In der intensiven Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen, der eigenen Biographie und der Kunst der Moderne, der sie nicht zuletzt auch als Galeristin eng verbunden ist, hat sie ein kraftvolles Oeuvre geschaffen. Es zeigt sich verwurzelt in der abendländischen Kulturtradition, im Humanismus, ist gewachsen in vielen Gedankenentwicklungen und eröffnet immer wieder neue, überraschende und anregende Perspektiven.

Auf die nächsten Denkwechsel darf man gespannt sein, auf neue Impulse, neue Sichtweisen –
ad multos annos!